Mindestlohn, Burn Out, flexible Beschäftigungsformen: Im Gespräch mit Betriebspraxis & Arbeitsforschung, Fachzeitschrift des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft, ifaa, in Düsseldorf (Dezember-Ausgabe 2013) äußert sich Oliver Zander, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes GESAMTMETALL, über Herausforderungen in der neuen Legislaturperiode vor der Kulisse einer Großen Koalition. Die Fragen stellte Carsten Seim.

Die künftigen Partner einer Großen Koalition wollen den Mindestlohn. Was halten Sie davon?

Der Mindestlohn ist beschlossen. Mit diesem Umstand müssen wir leben...

...Ökonomen wie der Sachverständigenrat und auch die Analysten der Deutschen Bundesbank sind Sturm gegen den Mindestlohn gelaufen...

Damit mögen die in der Sache ja Recht haben. Es liegt auf der Hand, dass ein Mindestlohn Beschäftigung kosten kann. Desungeachtet ist er nun aber politisch entschieden, und deshalb müssen wir uns nun damit beschäftigen, wie dieser Mindestlohn ausgestaltet wird. Ich begrüße deshalb, dass die Tarifpartner über den Mindestlohn entscheiden, nicht die Politik, und auch nicht von der Politik ernannte Wissenschaftler. Und ebenso richtig ist es, dass die Große Koalition zumindest für eine Übergangszeit auch bestehende, niedriger liegende  Tarifvereinbarungen respektieren will.

Warum muss der Staat überhaupt in die Lohnfindung eingreifen? Machen die Tarifpartner ihre Hausaufgaben nicht?

Den Vorwurf halte ich für völlig unbegründet. Im Rahmen der Tarifautonomie handeln die Tarifvertragsparteien die Tariflöhne aus. Die Entwicklung der einzelnen Branchen verläuft unterschiedlich und da ist es natürlich, dass auch die Tarifentwicklung von Branche zu Branche differiert. Auch und gerade Tariflöhne orientieren sich in der Regel am betriebswirtschaftlich verkraftbaren. Deshalb gibt es auch Tariflöhne unter 8,50 Euro

Was ist eigentlich so problematisch an einem Mindestlohn, wo doch die Einstiegstarife in den deutschen Schlüsselbranchen M+E und Chemie schon deutlich höher sind?

Natürlich sind wir in der Metall- und Elektro-Industrie zunächst einmal nicht unmittelbar betroffen. Aber das ist eine äußerst kurzsichtige Haltung. Problematisch ist der undifferenzierte Mindestlohn für den Arbeitsmarkt insgesamt, weil er ausgerechnet den am wenigsten Qualifizierten, die am dringendsten erst einmal eine Einstiegschance brauchen, solche Chancen deutlich beschneiden wird. Die Frage, wie wir überhaupt einfache Arbeit in Deutschland halten können, stellt sich in der Folge zwangsläufig wieder. Und spätestens wenn die Arbeitslosigkeit steigt, sind auch die Unternehmen der M+E-Industrie durch höhere Lohnzusatzkosten in Form höherer Beiträge zur Arbeitslosenversicherung betroffen.

Schwarz-Rot will auch flexible Beschäftigungsformen stärker regulieren. Leiharbeit wird befristet werden. Im Raum steht auch der Vorwurf der Bundeskanzlerin, dass die Wirtschaft flexible Arbeitsformen missbrauche. Ist der Vorwurf berechtigt? Und wie stehen Sie dazu?

Zeitarbeit ist eine inzwischen flächendeckend mit DGB-Tarifverträgen durchorganisierte Branche. In vielen Branchen – nicht zuletzt auch unserer – gibt es zusätzliche Vereinbarungen, die Zuschläge beim Geld und Übernahmeregelungen vorsehen. Umfassender geregelt ist keine Branche. Die jetzt vereinbarten Einschränkungen werden Zeitarbeit als Brücke in Beschäftigung erheblich beschädigen. Ein Drittel aller Zeitarbeitnehmer war vorher arbeitslos. Diese Branche war gerade für gering Qualifizierte Arbeitslose die wichtigste und effektivste Brücke in die Arbeitswelt. Im Übrigen ist die Debatte aber maßlos überzeichnet: Es gibt etwa genauso viele Banker wie Zeitarbeiter, nämlich rund 800.000 – die Zahl der Beamten ist mehr als doppelt so hoch. Der Blick auf den Arbeitsmarkt zeigt auch eine eindeutig positive Bilanz: Die Sockelarbeitslosigkeit ist, zum ersten Mal überhaupt, langfristig gesunken, es gibt so viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze wie nie zuvor, und das bei gleichzeitigem Beschäftigungsaufbau unserer Hochlohn-Stammbelegschaften.

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Warum braucht die Wirtschaft flexible Arbeitsformen wie Zeitarbeit?

Also, zuerst muss man auch hier die Dimension im Auge haben. Unsere Unternehmen setzen zuallererst auf die Stammbelegschaften, die wachsen, obwohl wir bei Aufträgen und Produktion nach wie vor unter Vorkrisenniveau sind. Der Anteil von Zeitarbeit im Verhältnis zur Stammbelegschaft dürfte aktuell bei gerade einmal fünf Prozent liegen. Nicht einmal jeder 20. Mitarbeiter ist befristet beschäftigt. Trotzdem sind flexible Elemente unverzichtbar, und zwar für alle Beteiligten. Wenn ich beispielsweise aus politischen, aber auch aus personalpolitischen Gründen eine Elternzeit für beide Elternteile unterstütze, geht das nur, wenn ich in der Zwischenzeit mit Teilzeit oder mit Befristungen agiere.

Für die Unternehmen kommt natürlich noch hinzu, dass sie zusätzlich auch noch konjunkturelle Schwankungen ausgleichen müssen. Diesen Spielraum brauchen unsere Unternehmen, die Flexibilität ist in Verbindung mit der Qualität und der Kundenorientierung eine der entscheidenden Wettbewerbsvorteile.

Mütterrente, Lebensleistungsrente, Abschlagsfreie Rente mit 63 und andere soziale Leistungen sollen geschaffen werden. Die Verfechter berufen sich dabei auch auf die aktuell gute Einnahmesituation der Rentenversicherung.

Die Beschlüsse, vor allem die Rente mit 63, sind in mehrfacher Hinsicht problematisch. Erst einmal ist es ein völlig falsches Signal, die Rente mit 67 zu durchlöchern – und zwar gerade jetzt, wo der Anteil der älteren Beschäftigten in den Betrieben deutlich nach oben geht. Es ist zum zweiten eine empörende Umverteilung zu Lasten der kommenden Generationen. Von der Regelung profitieren wenige, die jetzt in Ruhestand gehen werden. Binnen kurzer Zeit werden die die Überschüsse aufgebraucht sein, und das ist noch ein wohlwollendes Szenario. Möglich ist, dass die Einschritte beim Arbeitsrecht und der Mindestlohn zu mehr Arbeitslosigkeit führen – so dass gleichzeitig auch noch die Einnahmen der Sozialversicherungen sinken werden. Das absehbare Ende sind steigende Beitragssätze, mit entsprechenden Belastungen für Unternehmen und Beschäftigte, und höhere Steuerzuschüsse für die Rentenkassen. Höhere Lohnzusatzkosten und höhere Steuern bedeuten in aller Regel wiederum weniger Wettbewerbsfähigkeit – und weniger Arbeitsplätze.

Für Teilzeitbeschäftigte soll ein Anspruch auf Rückkehr in Vollzeit geschaffen werden. Würde das Ihrer Branche, die nach guten Fachkräften sucht und die der eigenen Aussage nach besonders familienfreundlich ist, nicht helfen?

Also, meiner Erfahrung nach gibt es drei Kategorien von Regelungen. In der ersten sind Maßnahmen, die allen nutzen – im Koalitionsvertrag beispielsweise die Ankündigung, die erleichterte Kurzarbeit dauerhaft in der Schublade zu halten. Dann gibt es Vorhaben, die den unmittelbar Betroffenen nutzen, dabei aber Nachteile für andere bringen – das Musterbeispiel dafür ist die genannte Rente mit 63. Und in die dritte Kategorie sind solche Ideen, die nur Nachteile haben und noch nicht einmal den angeblich Betroffenen helfen. Das Rückkehrrecht fällt leider in die dritte Kategorie. Fragt man mal nach, woran eine Rückkehr in Vollzeit tatsächlich scheitert, dann hört man fast ausschließlich: An der fehlenden Kinderbetreuung – und nicht am Willen des Arbeitgebers.

Die Bundeskanzlerin hat die Kritiker der jetzt auf den Weg gebrachten Kompromisse in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik folgendes empfohlen: „The proof of the pudding is the eating – Wie gut der Pudding ist, erkennt man beim Essen.“ Also erst mal probieren? Oder verderben hier zu viele Köche den Brei?

Verhandlungskompromisse und Koalitionsverträge sind natürlich noch keine Gesetze, und das galt erst Recht für einzelne Zwischenstände aus den Verhandlungskreisen. Insofern ist das Sprichwort zutreffend. Allerdings: Auch der beste Koch macht aus Lebertran keine Vanilleschoten. Der Blick auf die verwendeten Zutaten erlaubt dann doch schon eine Vermutung, was den wahrscheinlichen Geschmack angeht. Ganz nebenbei gesagt haben die Wähler klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie mit der derzeitigen Lage zufrieden sind. Alle Umfragen zeigen: Die Mitarbeiter sind mit Ihrer Arbeit zufrieden, sie fühlen sich wohl und sicher. Ein Kurswechsel klingt da zwangsläufig mehr nach Bedrohung als nach Befreiung.

Ein auch aus arbeitswissenschaftlicher Sicht bedeutsames Thema ist der Stress am Arbeitsplatz. Der DGB hat seine Forderung nach einer Antistressverordnung jüngst erneuert und beruft sich dabei auf eine Forsa-Studie der Techniker-Krankenkasse, nach der der empfundene Stress durch Arbeit gestiegen sei. Die SPD, die dieses Thema über den Bundesrat auf den politischen Instanzenweg gebracht hat, sitzt nun wahrscheinlich bald mit in der Regierung. Damit wird es zumindest nicht unwahrscheinlicher, dass eine solche Regelung kommt. Wie stehen Sie dazu?

Menschen, die arbeiten, empfinden mehrheitlich deutlicher weniger Stress als Menschen, die arbeitslos sind. Die weit überwiegende Mehrheit der Befragten hat trotz subjektiv empfundenen Stresses Spaß an ihrer Arbeit. Das zeigt schon, dass das Thema nicht mit holzschnitzartigen Schablonen abgehandelt werden kann.

Natürlich hat sich die Arbeitswelt verändert: Arbeitszeiten werden flexibler, Aufträge kommen unregelmäßiger, die Lebensstellung gibt es angesichts der rapiden Änderung unseres Umfeldes für viele nicht mehr. Das ist für manchen zweifellos Stress. Ob man allerdings pauschal behaupten kann, die körperlich ganz anders fordernde Arbeitswelt von vor 40 Jahren sei so viel entspannter gewesen, wage ich doch zu bezweifeln.

Und auf der anderen Seite fordern die Mitarbeiter heute von sich aus aktiv von den Unternehmen genau diese Flexibilität ein, weil sie selber ihre Lebenswelten längst nicht mehr so strikt trennen möchten. Die Mitarbeiter erwarten heute, am Nachmittag zum Laternenumzug im Kindergarten gehen zu können, und erledigen die Arbeit dann danach, sie schauen auch tagsüber auf ihre Smartphones und die Statusmeldungen in ihren Netzwerken. Jeder muss selber beurteilen, ob er das für sich selber gut oder schlecht findet, es ist aber in jedem Fall die gelebte Realität.

Davon abgesehen nehmen wir das Thema als Ganzes – und eben nicht nur in Einzelaspekten – sehr ernst und haben mit unserem Institut für angewandte Arbeitswissenschaft ja auch den richtigen Partner, um Betriebspraxis und wissenschaftlich fundierte Forschung miteinander zu verbinden und den Unternehmen mit entsprechendem Rat zur Seite zu stehen.

Hier geht es zur Webseite des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft, ifaa.

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Carsten Seim, avaris | konzept, Redaktionsbüro für strategische Kommunikation - Kommunikative Beratung | Öffentlichkeitsarbeit | Redaktion | Seminare

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