Lord Ralf Dahrendorf, der große liberale europäische Vordenker, ist tot. Er starb am Mittwoch, 17. Juni 2009, in Köln. Im Oktober 2004 hatte sich Dahrendorf, der als einer der wichtigsten Vertreter liberaler Gesellschafts- und Staatstheorie galt, in Berlin in einer Rede mit der Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft auseinandergesetzt. Dahrendorf forderte dabei einen verantwortlichen Kapitalismus („responsible capitalism). Seine Kritik an allzu kurzfristigem Profitdenken liest sich wie eine vorweggenommene Warnung vor Vorgehensweisen an den Finanzmärkten, die in die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise geführt haben. Dahrendorf beschäftigte sich darüber hinaus mit der Zukunft des sozialen Ausgleichs in der Sozialen Marktwirtschaft.
Historisch betrachtet sei dieses Wirtschafts- und Sozialsystem „nicht aus einem Guss“, sondern eine „Legierung“: Wer in Deutschland von Sozialer Marktwirtschaft spreche, meine im Regelfall „Ludwig Erhard plus katholische Soziallehre“ – für Dahrendorf ein „Programm der Unvereinbarkeiten, das die frühe CDU und CSU prägte und sie in gewissem Masse bis heute prägt“.
Diese theoretisch eigentlich unvereinbare „Legierung“ habe das bundesdeutsche Wirtschafts- und Sozialsystem einerseits sehr erfolgreich gemacht, sich auf der anderen Seite aber auch als dessen Schwäche erwiesen: „Weil sie nicht aus einem Guss war, konnten Teile der sozialen Marktwirtschaft sich verselbständigen. Es konnte am Ende eine Sozialpolitik geben, die die Dynamik der Marktwirtschaft selbst zerstört. Es konnte auch eine wirtschaftspolitische Konzeption geben, die die gewährten sozialen Leistungen bedroht.“
Für die Zukunft forderte Dahrendorf einen verantwortlichen Kapitalismus („responsible capitalism“). Dabei gehe es nicht zu allererst darum, wie viel Geld Unternehmer für soziale Zwecke investieren, sondern um das Maß an Verantwortung, das sie in der „in der erfolgreichen Unternehmensführung“ zeigen.
In diesem Zusammenhang kritisierte Dahrendorf allzu kurzfristiges Profitdenken: „Der Weg vom Sparkapitalismus über den Konsumkapitalismus zum Pumpkapitalismus hat die Zeitperspektiven der Handelnden immer stärker verkürzt. Für die Entscheidungen eines Hedge-Fonds zählen Stunden. Übrigens verhalten sich manchmal auch große Produktionsunternehmen nicht anders.“
Verantwortlichen Kapitalismus hingegen definierte Dahrendorf als „unternehmerisches Wirken mit Blick auf die mittlere Frist“: „Der Blick auf die nächsten zehn, ja zwanzig Jahre hat segensreiche Folgen, die über die Konkurrenzfähigkeit hinausreichen.“ Daraus erwachse wirtschaftlicher Erfolg mit „sozialer Wirkung“ – und dies sei im urprünglichen Sinne ein zentraler Aspekt der Sozialen Marktwirtschaft.
Zugleich warb Dahrendorf für eine neue Balance zwischen wirtschaftlichem Handeln und sozialem Ausgleich: „Dass der Markt nicht alles leisten kann, was Menschen und ihre Gesellschaften für wünschenswert halten, ist nachgerade ein Gemeinplatz.“ Es müsse „etwas hinzukommen, um dem Kapitalismus ein menschliches Gesicht zu geben“. Dabei müssten jedoch zwei Fragen beantwortet werden.
1. Wie viel Soziales erträgt eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft?"
2. Wer soll dieses Soziale wie bestimmen?
Dahrendorf, der lange in Großbritannien gelebt und gearbeitet hat, beleuchtete diese Fragen für Deutschland gleichsam mit einem Blick von der britischen Insel aus: „Auch Briten hätten gerne bessere öffentliche Dienste; aber sie misstrauen dem Staat so sehr, dass sie nicht bereit sind, die dafür nötigen Mittel bereitzustellen. Deutsche dagegen sind stolz auf das Dreispartentheater in der nächsten Provinzstadt, von modernen Verkehrsverbindungen und gut ausgestatteten Krankenhäusern ganz zu schweigen, und sie bezahlen das auch klaglos.“
Doch nun stoße man an Grenzen. Deutschland habe „ein die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Steuerzahler überforderndes System der sozialen Sicherheit“. Dahrendorf: „ Es überfordert, weil es schlicht aus den vorhandenen Mitteln nicht bezahlbar ist und zudem noch eine Spirale wachsender Kosten enthält. Es überfordert auch, weil es in der gegenwärtigen Form die Grenze überschreitet, innerhalb derer die Bürger des Landes sich ohne Schaden für ihre Wirtschaft entscheiden können, welche sozialen Leistungen sie wollen.“
Dahrendorfs Fazit: „ Eine Neue Soziale Marktwirtschaft wird in Rechnung stellen, dass es Varianten des Kapitalismus gibt, und sie wird einem verantwortlichen, nämlich auf mittlere Sicht operierenden Kapitalismus den Vorzug geben. Darüber hinaus wird sie ausloten, in welchem Masse die Bürger bereit sind, ein soziales Netz zu finanzieren. In Deutschland wird man - zum Unterschied auch von manchen anderen europäischen Ländern - eine relativ hohe Bereitschaft annehmen können. Dann ist das Thema der politischen Diskussion die Art des Sozialstaates, die wir wollen. Meine Präferenz ist die für ein hohes Maß an individueller Wahl- und Entscheidungsfreiheit, daher auch an Selbstbeteiligung, aber zugleich eine langfristig garantierbare Grundausstattung für alle.“
Lord Dahrendorf galt durch zahlreiche Veröffentlichungen als einer der wichtigsten Vertreter liberaler Gesellschafts- und Staatstheorie. Die Tageszeitung DIE WELT bezeichnete ihn in einem Nachruf als "public intellectual" auf der Suche nach "dem archimedischen Punkt der Zivilgesellschaft". Dahrendorf war FDP-Bundestagsabgeordneter, Parlamentarischer Staatssekretär im Außenministerium und EWG-Kommissar. Als Direktor leitete er die London School of Economics. Als Rektor amtierte er am St. Antony's College und wurde 1997 Prorektor der Universität in Oxford. Als Baron of Clare Market in the City of Westminster war Dahrendorf Mitglied des britischen Oberhauses.
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